– so wie es ist, am 9. Juli 2017
Es ist der letzte Abend des ernst in dieser Form: Sechs Gäste treffen sich an einem runden Esstisch aus dunklem Holz, unter einer tief hängenden Lampe, deren Schein die Tischfläche, das Essen und uns zum Leuchten bringt.
Anfang August wird mit dem ernst ernst gemacht (es ist erstaunlich, wie viele Wortwitze sich mit diesem Namen machen lassen und auch gemacht werden). Das ernst stellt sich dann als Restaurant der Welt dort draußen. Es ist der letzte Abend in der Wohnung von Dylan, dem Mastermind in der Küche. Mit ihm arbeiten noch zwei weitere Köche. Durch den Abend führt Christoph, der Sommelier.
Entrée
Man merkt, dass dieser Abend auch für die Jungs etwas Besonderes ist. Nach diesem schließen sie den Dinnerclub ernst und wagen den Aufbruch ins eigene Restaurant ernst und ins neue Konzept. Dann sollen es nicht mehr sechs Leute an einem Tisch zu 160€ inklusive Getränke sein, sondern zwölf Gäste an einem Tresen, 135€ das Menü, mit Getränkebegleitung noch mal 60€. Der Start des Restaurant-ernst wurde immer wieder verschoben. Der nächste Eröffnungstermin: 9. August 2017. Das Reservierungstool ist online und die Plätze schon weitgehend weg.
Ich war ein wenig enttäuscht, dass ich den letzten Platz am Dinnertable-Tisch bekommen habe, weil ich irgendwie auch gleich ins richtige Restaurant wolle. Das war vor diesem Abend. Doch nachher war ich sehr glücklich, dass ich diese besondere Form des Essens und der Tischgemeinschaft erlebt habe. Wie auch immer das neue ernst wird: dieser Abend hatte etwas Besonderes, irgendwie auch im Sinne des Konzepts, beziehungsweise des japanischen Gedankens des ichi-go, ichi-e, der Einmaligkeit einer Zusammenkunft.
Die Wege, auf denen sich Gleichgesinnte finden, sind manchmal unergründlich und doch im Nachhinein sehr direkt und leicht verständlich. Ich las vor einiger Zeit mal vom ernst, von Dylan und seiner Zeit in Japan.
Doch zuerst habe ich Christoph, den Sommelier kennengelernt. Wir haben uns über einen Text gefunden, meinen Text über das Sashimi. Ein Freund hatte Christoph darauf aufmerksam gemacht und dieser schrieb mir nach der Lektüre, er wolle mir einfach mal ein Kompliment machen. Das war ein toller Start.
Wir stellten fest, dass wir beide in demselben Hotel gearbeitet haben – dem Brandenburger Hof in Berlin. Christoph war dort als Sommelier im Sternerestaurant Quadriga tätig, ich machte dort ein paar Jahre vorher meine Ausbildung zum Koch.
Bis es schließlich zu dem Abend kam, an dem wir uns trafen und ich das ernst kennenlernen konnte, vergingen ein paar Monate. An einem Sonntag Anfang Juli empfing wurden mein Begleiter und ich an der Wohnungstür eines typischen Altbaus im Berliner Wedding Christoph empfangen.
Die Wohnung war schlicht und leer. Über einen langen Flur gelangten wir ins Wohnzimmer. Da stand eine graue Couch, ein Sideboard mit Schaltplatten in den Schubfächern und einer Reihe von Flaschen und Gläsern oben auf der Ablagefläche und jener besagte Tisch mit den sechs Stühlen im Schein der Esstischlampe. Sonst war der Raum leer.
Kurze Zeit später kamen auch unsere Tischgenossen für den Abend an, zwei befreundete Paare. Zwei weitere Freunde hatten sich wohl kurzfristig wieder ausgeklinkt und so kamen wir an unsere Plätze.
Kennenlernen
Eine interessante Situation entstand, denn das Setting hatte etwas Intimes obwohl wir uns vorher noch nie begegnet waren. Wir konnten uns für die nächsten Stunden nicht aus dem Weg gehen. Wir saßen gemeinsam an einem runden Esstisch, nicht etwa an einer langen Tafel, oder vereinzelt je nach Gruppen in einem eigenen Bereich. Wir saßen und aßen zusammen. Über eine kleine Vorstellungsrunde und nach dem ersten Prost wurden wir zu einer temporären, immer fröhlicher werdenden Mahlgemeinschaft. Das ist einer der Aspekte, der diesen Abend besonders gemacht hat und so im Restaurant nicht mehr stattfinden wird. Wir saßen in einer Runde, ohne bessere oder schlechtere Plätze, hatten den Fokus auf die Mitte, jeder hatte einen Nachbarn, konnte gleichzeitig mit jedem anderen sprechen. Manchmal wurden Gerichte in die Mitte gestellt. Wir teilten das Essen.
Im Restaurant-ernst gibt es im japanischen Kappo-Stil zwölf Sitzplätze an einer Theke hinter der die Köche arbeiten. Die Küche ist vertieft. Koch und Gast begegnen sich beim Servieren der Gänge auf Augenhöhe. Im Wohnzimmer-ernst kniet Dylan gerne zwischen uns, um die Gerichte und ihre Herkunft zu erklären. Christoph hingegen nimmt etwas Abstand vom Tisch damit wir ihn gut sehen können. Die Perspektive sorgt dafür, dass wir nicht aufblicken mussten.
Das Besondere an diesem Abend ist dieser Hybridstil aus „bei jemandem Daheim zum Essen sein“ und gleichzeitig von Gastgebern durch den Abend geführt zu werden, die das nicht mal eben so machen. Sie sind Profis. Das sieht man, wenn Christoph die Gläser mit den Weinen vorparfümiert, bevor er sie ausschenkt: mit schwungvollen Handbewegungen, akkurat, schnell und präzise. Acht Jahre als Sommelier liegen nun schon hinter ihm. Ich kenne diese Welt ein wenig von früher, aus der Lehre, mit dem Blick aus der Küche. Selber gemacht habe ich das nie. Es braucht eine besondere Leidenschaft dafür, vor allem, wenn nachts um 3 Uhr noch Gläser zu polieren sind.
Ganzheitlichkeit
Das ernst ist anders als klassische Sternegastronomie. Das Besondere an unserem Abend ist nicht das Essen. Es ist vielmehr die Ganzheitlichkeit des Abends. 28 Gänge werden uns serviert. Ein paar von ihnen werde ich exemplarisch beschreiben. Serviert wird, was die Jungs in den letzten Tagen, bzw. an diesem Sonntag von ihren Produzenten bekommen haben. Diese sind im Wesentlichen eine Demeter-Gemüsebäuerin, die östlich von Berlin in Brandenburg, arbeitet. Die Milchprodukte kommen von David aus dem Norden der Hauptstadt, der einigen Gastronomen mit ähnlichen Konzepten ein fester Begriff und wichtiger Partner ist – so sehr, dass manchmal nur sehr bevorzugt die raren Produkte ausgegeben werden. David liefert eine besondere, dicke, pure Sahne mit hohem Fettgehalt (70%), die mehrmals im Menü auftaucht. Sie schmeckt sehr direkt nach dem, wo sie herkommt: nach Kuh, Milch und Wiese. Die Cremigkeit und Dichte hebt sie auf ein technisch-sensorisch hohes Niveau. Die Aromen sind umfangreich, mit manchen Nuancen, die man so normalerweise nicht schmeckt, weil alles andere homogenisiert und ultrahoch erhitzt wird. Das hier ist roh und ursprünglich. Man schmeckt den Bezug zu Davids Hof sehr deutlich und in einer Vergleichsprobe könnte man vielleicht sogar ein Charakterprofil entdecken, wenn z. B. eine rohe Creme fraîche aus dem Allgäu gegenüber stünde.
Warum spielen die einzelnen Gänge keine Rolle? Weil es Impressionen sind. Kleine Geschmackseindrücke, kaum mehr als zwei Gabeln oder drei Löffel voll, selten mehr als zwei, drei Zutaten. Man könnte also von einem impressionistischen Menü sprechen. Denn die Dinge sollen im Wesentlichen pur auf den Tisch kommen. Ein Dessert besteht z. B. aus frischen Himbeeren, die ein bisschen zerpflückt werden und auf der dicken, wild aromatischen David-70%-Fett-Creme serviert werden – ohne weitere Zusätze.
Impressionen von der Buschbohne
Die Veränderungen, die die Köche vornehmen, sind äußerst reduziert. Es gibt z. B. zwei Sorten grüne Buschbohnen, die in sehr feine Ringe geschnitten und von etwas Dashi benetzt sind. Der Dashi ist nicht abgerundet mit Mirin, Sake und Sojasauce, wie man es aus Japan kennt. Auch er ist relativ pur, zeigt Ecken und Kanten. So entsteht der Eindruck: Die Dinge werden so präsentiert, wie sie sind. Es ist ein Einblick in das Sosein und dieses Sosein ist manchmal auch ungestaltet. Natur eben.
Und da sie gleichzeitig so sein sollen, liegt darin eine Gestaltungsabsicht. Darin erkennt man Dylan und sein Konzept. Ähnlich wie im Kaiseki geht es deshalb nicht um klassischen Genuss und ums Lecker, sondern eher um eine Schau oder, wie gesagt, um Impressionen zum Tag, zum Ort, zur Zeit. Man isst, was gerade so ist.
Die Bohnen sind deshalb schön, weil sie frisch, kühlend und knackig sind. Die Schnitttechnik verleiht dem Gericht eine interessante Struktur. So habe ich das Offensichtliche, eine Bohne, noch nicht gegessen, zumindest nicht in Deutschland. Denn irgendwie erinnert mich das Gericht an Japan, z. B. an den Koch Nakahigashi aus Kyoto. Dylan, der Mastermind, hat 18 Monate bei Seiji Yamamoto im Toykoer Ryugin gekocht. Er ist mit der Haltung japanischer Küche, ihrem Produktverständnis, Geschmacksbildern und Techniken vertraut. Er hat bei einem Koch gelernt, der tief in die traditionellen Techniken einsteigt, um darin seinen eigenen Weg zu finden, die Tradition durch eigene Innovationen weiterbestehen zu lassen. Darauf komme ich später beim Aal zurück.
Technik des Abends: Grillen
In der Küche sind die Arbeitsflächen am Ende des Abends bereits leer. Ich sehe noch einen Paco-Jet, einen Thermomix und einen japanischen Grill – eine lange, rechteckige Box, über die Gitter und Stäbe gelegt werden. Unten auf dem Boden des Grillkastens liegen noch die Kohlenreste. Es handelt sich um Birkenkohle, die im japanischen Stil hergestellt wurde – sie arbeitet rauchfrei, sodass man auch drinnen grillen kann. Ich erinnere mich an einen Besuch während meiner Japanzeit bei einem ehemaligen Manager eines großen Unternehmens, der sich ein schönes Haus aus Holz gebaut hatte, in dessen Mitte unter einer hohen Decke, traditionell und modern zugleich, eine Feuerstelle aufgebaut war. Der Mittelpunkt des Hauses. An einem Haken von der Decke hing zunächst der eiserne Kessel mit Teewasser. Später legte er einen Rost über die Ränder des rechteckigen Grillbeckens und er grillte feine Fische, Tofu und Gemüse, ohne eine Spur von Rauch oder dem typischen Fett-Grill-Verbrannt-Geruch, den man in Deutschland so kennt.
An diesem Abend im Ernst ist das Grillen die bestimmende Technik. Das geht meistens langsam, über einen großen Zeitraum.
Glasige Zwiebeln
Vom Grill kommen z. B. feine Zwiebeln aus Teltow, die mit Fenchelöl und Fenchelsaft serviert werden. Die einzelnen Segmente liegen in dem grünlichen Fond in einer sehr subtilen, fast versteckten Schönheit, in ihrer glasigen, zart-weißlichen-schleierigen Struktur, mit braun-karamellfarbigen Rändern. Allein beim Betrachten erahne ich, was da gleich an Geschmack im Mund passieren wird. Süßlich, weich, ein wenig schmelzend, ein dezenter Knack. Die Grillnoten sind sehr zurückhaltend. Das Gericht ist kaum gesalzen. Man spürt den natürlichen Salzgehalt der Dinge. Die Aromen und Konsistenz sind toll. Das Gericht ist pur und leicht, auch wenn es manchmal ausreißt, macht es doch Spaß. Eine Impression von: so ist die Zwiebel, heute, nach Dylan.
„Just a carrot“
Vom Grill kommt auch die Karotte, die für meine Nachbarin linkerhand so etwas wie die zentrale Idee des Abends transportiert. Es geht um die Einfachheit, die ich in Japan ausführlich erforscht habe und hier wiederfinde.
Ein flacher, grauer Teller mit kleinem senkrechten Rand wird vor uns hingestellt. Quer darüber, von links nach rechts zieht sich ein schwarzes Gebilde, das an eine Möhre erinnert. Dylan erklärt kurz worum es sich handelt: tatsächlich eine Möhre, die in der sandigen Erde des östlichen Brandenburgs besonders langsam wächst und intensiv wird. Sie wurde langsam gegrillt, dabei mit geklärter Butter bestrichen und vor dem Servieren nochmals mit geräucherter Butter aromatisiert.
„It’s just a carrot“, lässt Dylan noch fallen, bevor er das Wohnzimmer wieder Richtung Küche verlässt. Wir probieren. Als Erstes tritt der Buttergeschmack in die Wahrnehmung, dann die weiche Konsistenz. Leichte Raucharomen kommen dazu. Am Ende ist das Aroma der Karotte zu schmecken, jedoch sehr zurückhaltend.
Meine Nachbarin ist begeistert. Der Groschen fällt. „Just a carrot“ wiederholt sie und stößt mich an, jetzt schon deutlich begeistert. „’Just a carrot’, das solltest Du unbedingt aufschreiben.“
Man kann über diesen Punkt eine ganze Dissertation im fernen Japan verfassen – oder einfach im ernst essen.
Die Karotte ist ein typisches Beispiel, wie ein Produkt einen optimalen Zustand einnehmen kann – und dass es nie das perfekte Produkt geben wird. Denn was die Karotte beim Grillen verliert ist die Farbe, die Frische und einen guten Teil ihrer Armomatik. Was sie gewinnt ist vor allem die Konsistenz, die das restliche Aroma einbindet, mitnimmt und damit ein stimmiges Ganzes bildet. Und natürlich ist da noch die Form, die uns an ihren ursprünglichen Zustand erinnert. Man sieht hier also die gedankliche Arbeit, den Mut, sich zu entscheiden und etwas auf das Wesentliche zu reduzieren.
Was meine Nachbarin so begeistert, ist dieses Pure und Direkte. Sie spürt etwas Wesentliches, das man in klassischen Sternerestaurants mit den Trend- und Michelin-Jüngern ihrer Meinung nach selten bekommt. Aber gerade danach sucht sie. Und wird hier fündig.
Auf dem Teller liegt tatsächlich nur eine Karotte und – ähnlich wie ich es in Japan mit verschiedenen Produkten erlebt habe – gleichzeitig viel mehr.
Dylan zeigt hier einen Grad des Verständnisses für die japanische Küche, den ich in Europa sonst noch nicht gesehen habe. Weder im Noma, noch im Nobelhardt. Die Idee der japanischen Küche, ihre Philosophie, ist aber eigentlich nicht japanisch. Sie ist ein bestimmter Zugang zur Welt und ein Umgang mit den Dingen. Respektvoll, aufmerksam, mit einer Haltung, sich von den Dingen führen zu lassen, das richtige Maß zu finden, Dinge auf eine einfache Form und das Wesentliche zu reduzieren.
Dafür lohnt sich eine Reise in die Küchen Japans. Nicht nur in den Restaurantbereich, sondern tatsächlich in die physische Küche, den Ort, wo gekocht wird. Man begreift das beim Tun, wie Dylan, oder beim Beobachten und dem Mitarbeiten als Praktikant, wie es bei mir der Fall war.
Aal
Mein Highlight ist der Aal, obwohl ich vermute, dass die Wachtel, die danach serviert wird, den eigentliche Höhepunkt bilden soll. Sie beeindruckt mich nicht so sehr, vor allem nachdem Dylan erzählt hat, dass sie ganze sieben Tage im Federkleid gereift ist, um dann wiederum 10 Tage nackt und ausgenommen zu ruhen und schließlich langsam gegrillt zu werden. Sehr slow, sehr aufwändig. Die Brust ist fein und saftig, die Beine vor dem Hintergrund der Reifung einigermaßen zäh.
Der Aal erinnert mich wieder sehr an Japan. Gerade im Sommer sind dort die beiden bekanntesten Aalarten, der Hamo und der Unagi, sehr beliebt. Ihnen wird nachgesagt, sie helfen, der Schwüle und Hitze dieser Jahreszeit zu trotzen und Standfestigkeit zu verleihen. Schön also, dass es auch an diesem warmen Abend im Wedding Aal gibt – glasiert und langsam über Holzkohle gegrillt, begleitet nur von einem Klecks pürierter Kapuzinerkresse, bestreut mit feiner Dillsaat. Der Aal stammt aus der Havel und bildet mit dem Kraut eine kleine Miniatur, eine Impression des Umlands von Berlin. Drei bis vier Stunden hat der Aal laut Dylan über der Kohle verbracht. Er schmeckt dadurch sehr fluffig und saftig. Die Haut ist kross-karamellig-salzig. Ein guter Schwall Havelmuff begleitet die ersten Eindrücke. Es ist halt ein Aal. Das währt aber nur kurz. Wir sind alle begeistert. „So habe ich Aal noch nie gegessen“, sagt jemand in der Runde. Das Fettige verbindet sich über die Lackierung und der luftigen Konsistenz auf wunderbare Weise mit dem Saftigen. Mein Mund ist erfüllt. Diese für mich schönste Seite des Aals gibt es nun also nicht mehr nur in Japan. Dylan erwähnt kurz, dass er die Technik von seinem Lehrmeister Yamamoto mitgebracht hat, die Knochen zu entfernen und die Struktur des Fleisches bewahren zu können.
Die Knochen werden gegrillt und ausgekocht. Die Reduktion wird mit Honig gemischt und als Glasur für den Aal verwendet. Etwa sechs Stunden, sagt mir Christoph, arbeitet Dylan jedes Mal an dem Gericht.
Yamamoto gilt als ein akribischer Forscher. In einer japanischen Fernsehsendung von 2010 wird er dabei gefilmt, wie er versucht, die feinen Knochen das Hamo vertikal zu durchschneiden, um so ein anderes, besserer Esserlebnis zu schaffen. Traditionell werden die feinen, vielzähligen Knöchelchen dieses Aals mit Hilfe des speziell dafür entwickelten schweren Hamo-Messers zerschnitten – horizontal. 20 Schnitte auf einen Zentimeter, sagte mir mal ein japanischer Koch. Die Differenzen sind klein in Fernost. Allein der Winkel unterscheidet zwischen Tradition und Innovation.
Zurück zum Aal im ernst. Seine Haut dient während des langen Grillens als Schutz. Gleichzeitig wird sie damit essbar gemacht und erweitert das kulinarische Spektrum des Aals um ein weiteres, eigenes Element. Auch das ist das besondere am japanischen Kochen: Jedes Moment und Element eines Produkts wird zunächst als solches ernst genommen und auf seine kulinarischen Möglichkeiten erforscht. Über die Auswahl der Techniken entwickelt der Koch bestimmte Aspekte dieses Produkts zu einem stimmigen Ganzen. So entstehen in sich komplexe und für sich stehende Miniaturen, denen es an nichts fehlt, die nur einen kleinen Kontrapunkt brauchen, um ihre Wirkung zu entfalten. Das ist die Einfachheit der japanischen Küche, die mich so fasziniert und die vor mir auf dem Teller liegt.
Struktur und Dramaturgie
Die Gänge ziehen uns in relativ schneller Folge durch den Abend. Ich kann mir kaum Notizen machen; es gilt noch zu schmecken, Fragen zu stellen und mich mit den anderen Gästen am Tisch auszutauschen. Christoph kommt ab und zu herein und fragt: „Wie geht es Euch“, oder „könnt ihr noch?“ „Gut“, sagen wir und „Ja, weiter bitte.“ Er schenkt immer wieder neue Getränke aus, Biere, Wein aus Trauben, Äpfeln usw. Sie begleiten uns jeweils für zwei, drei Gänge. Eine Sause, auch mit dieser Geschwindigkeit, so kommt es mir während des Essens vor. Im Nachklang kann ich damit gut umgehen, wenn man los- und sich führen lässt, wenn man tatsächlich mehr auf die Wahrnehmung denn auf die Reflexion eingeht. Verglichen mit einem Kaiseki-Restaurant in Kyoto ist die Dramaturgie geradlinig und pur wie die Gerichte selbst. Tack-tack-tack…zwei Produkte pro Teller, vieles von zurückhaltender Anmutung, sodass man hinterher schmecken muss, um die Dinge zu ergründen. Das ist auch durchaus Japanisch; man drängt sich dort nicht auf, deutet Schönheit und Qualität der Dinge allenfalls an. Aufmerksamkeit und Konzentration ist deshalb gefordert. Es gibt wenig Plätze, auf denen man ausruhen kann, etwa ein vielfältiger Teller, man denke an die Hassun-Box im Kaiseki, die innerhalb ihrer selbst zum Erkunden einlädt und das Auge und den Gaumen leicht und schnell befriedigt. Ähnlich ging es mir übrigens auch im Nobelhardt – dort als Strom von grauen Tellern mit eher monochromen Gerichten.
Daran, würde ich sagen, zeigt sich das Entwicklungsniveau einer Küche und einer Küchenkultur. Das ist nicht als Kritik im alltäglichen Sinne von Loben oder Tadeln gemeint, sondern als Beschreibung des Status quo. Ähnlich formulierte es Micha Schäfer, Küchenchef im Nobelhardt: Er stehe da, wo er eben stehe.
Dramaturgisch bieten sich weitere Möglichkeiten an, z. B. durch eine monatlich wechselnde Geschirrauswahl, die jedoch erst einmal, das zeigen die Kaiseki-Restaurants in Kyoto angeschafft und finanziert werden muss.
So entsteht ein leiser Hauch der Getriebenheit. Junge Köche, viel Energie.
Diese Gradlinigkeit führt dazu, dass keine unnötigen Posen eingenommen werden. Man hat das Gefühl, der still und zurückhaltend wirkende Dylan erzählt durch das Essen. Das, was er sagt, erzählt er sehr direkt, schnörkellos. Die Technik dient ihm, wie Stimme oder Instrument, Notation und Figur, seine Dinge kulinarisch zu sagen. Technik um der Technik willen oder um zu zeigen: „Ich beherrsche mein Handwerk“ gibt es nicht. Das ist mutig und eine große Leistung, finde ich. Denn dann kommt das Produkt zu Geltung und die Zurückhaltung von Dylan zeigt ihn als authentisch. Die Dinge zeigen, was er kann. Man isst, sagt man in Japan, nicht nur eine Aubergine oder einen Aal von diesem und jenem Koch. Mit dem Besuch dessen Restaurants isst man den Koch selbst. Wir schmecken Dylan und sein Team durch gerillten Wirsing, Lauch mit Miso, Biskuitkuchen in Aprikosensud.
Seine feine Technik sieht man beim Aal oder bei den Zucchini. Letztere ist sehr saftig, frisch und knackig gegart. Sie ist umhüllt von einem sehr leichten Tempurateig, der wie in Japan durch die wunderbare frische des Öls besticht, durch die krosse Luftigkeit, das zarte Aroma des Teigs. Damit halten sich Teig und Zucchini in ihrer Intensität die Waage, vereinen sich. Den Akzent kann man selbst setzen, indem man einen der Salzkristalle nimmt und das Tempura damit belegt. So dreht sich das Gericht, richtet sich aus, bekommt eine mineralische Spitze.
Salz, Komplexität
Dem Salz werden gegen Ende des Menüs nochmals ein paar Gedanken gewidmet. Christoph sagt, Dylan und seine Köche zählen die Kristalle wenn sie sie verwenden. Es gibt im gesamten Menü kaum Dinge, die gesalzen werden. Und wenn, dann eben sehr, sehr reduziert. Ich erinnere mich an den Salzpegel meiner Lehrjahre, wenn wir den ganzen Tag Sachen abschmeckten und z. B. mein Postenchef Raucher war. Damals, so erscheint es mir heute, waren wir was das Salz anbetraf am oberen Anschlag. Es war aber auch die Zeit, als es eine fertige Salz-Pfeffer-Mischung am Posten gab. Es ist lange her. Pfeffer spielt heute noch weniger eine Rolle als das Salz.
Auch hier hilft ein Blick nach Japan. Der Gedanke des Dashi verträgt sich nicht gut mit dem Salz. Ein Dashi wird, wenn man nicht vorsichtig ist, durch ein paar Salzkörnchen zu viel schnell derbe. Man startet nach dem Abpassieren der Katsuoflocken ja mit Sojasauce und Mirin, um die aromatische Basis zu legen. Das Salz sorgt im Feinbereich für die Spitze.
Wenn man viel Sachen direkt vom Feld probiert, merkt man irgendwann, dass die Dinge ihre eigene Ausgewogenheit haben. Staudensellerie wirkt roh und für sich gegessen z. B. durchaus salzig. Es fehlt ihnen nichts, zeigt sich auch hier. Sie sind, so wie sie sind, komplett und komplex. Eventuell gilt es, sich darauf einzulassen. Im Gespräch am Tisch über das Salz zeigt sich: Es fiel an diesem Abend niemandem schwer.
In der Frage nach dem Salz liegt eine feine Differenz, die hier wesentlich für das Konzept und diesen Küchenstil ist. Die Dinge sind, so wie sie sind, in sich stimmig, komplett und gut. Sie bedürfen im Grunde keiner weiteren Veränderung. Außer Schneiden und Garen. Das hat wiederum etwas mit Respekt und Wertschätzung der Produkte und ihrer Produzenten zu tun.
Ausklang und Desserts
Das Menü klingt im europäischen Stil über eine Reihe von Desserts aus. Besonders in Erinnerung ist mir ein feiner Bisquitkuchen geblieben, der mit einem Aprikosensud vollgesogen war. Ein anderes Dessert besteht aus einem kleinen Tartelette mit Creme und Walderbeeren. Auch hier wird nicht mehr als nötig mit den Dingen gemacht. Richtig fancy ist dagegen ein Fudge auf Basis von Managlitza-Schweinfett.
Unsere Stimmung ist fröhlich und ausgelassen. Als alles vorbei ist, gibt es einen herzlichen Abschied. Die Jungs wirken, als können sie es kaum erwarten, wieder allein in Dylans Wohnung zu sein, um die Korken knallen zu lassen und den Aufbruch ins Restaurant zu feiern.
Die Toilette zeigt noch mal diesen wunderbar-erstaunlichen Hybrid aus Privatwohnung und High-End-Restaurant. Einer unsere Gastgeber hat dort feine Handtücher und Seifen bereitgestellt, Kerzen angemacht. Es soll schön und angemessen sein, ein bisschen edel sogar – aber es bleibt doch auch gleichzeitig von der Grundsubstanz ein stilles Örtchen in einer Berliner Altbauwohung.
Danach, Nachklang am Späti
Kurz darauf hat Berlin uns wieder. Mein Begleiter und ich gehen noch über die Straßen durch den Wedding, suchen nach einem Ort, an dem man ein paar Worte wechseln und das Essen in Worte fassen kann. Wir finden nur einen Späti, setzen uns neben zwei bullige Russen. Innerhalb von 10 Minuten laufen mindestens 5 sehr, sehr kuriose Gestalten, von freundlich bis lieber nicht provozieren an uns vorbei. Eine Streife hält drüben auf der anderen Seite, an der U-Bahn, checkt Leute und Lage.
Wir sind platt. Das Bier will nach diesem Erlebnis nicht richtig schmecken. Es macht geschmacklich irgendwie keinen Sinn. Wie fühle ich mich sonst? Es ging dann doch alles ziemlich schnell. Ich bin voll – und berauscht, ohne es in Worten sagen zu können.
Es arbeitet in mir. Das ist ein gutes Zeichen.
Als ich am nächsten Tag mit meiner Frau über den Abend spreche, spürt sie deutlich meine Begeisterung. Es war ein gelungener Einblick in das So-sein der Dinge, in und um Berlin, durch die Augen und den Geschmack des ernst.