Im Kaiseki-Restaurant Kawakami, Kyoto

©Anke Haarmann
– Mein erstes Kaiseki-Menü (2010)

 

Im Frühjahr 2010, ich war gerade in Kyoto angekommen, habe ich zusammen mit meinem japanischen Betreuer und einem deutschen Philosophen das Kaiseki-Restaurant Kawakami im Vergnügungsviertel Gion, downtown Kyoto, besucht.
Sehr eindrücklich. Ich habe den Text nicht verändert. In den sieben Jahren hat sich dafür in der europäischen Esskultur so manches getan. Gemüse ist jetzt z. B. im Fokus, ebenso wie das Kappo-Konzept.

Es geht los:

Frühlingsmenü im Restaurant Kawakami


Vorbemerkung

Ein Essen in einem Kyotoer Spitzenrestaurant ist für mich als europäisch geschulter Koch und Esser eine Herausforderung.

Die Küche in Kyoto gilt als Gemüseküche. Fisch spielt natürlich auch eine Rolle, doch des Öfteren ist die Meinung zu hören, dass man im Vergleich mit Osaka dort den besseren Fisch bekommt. Gemüse und Fisch sind – zumindest in deutschen Spitzenrestaurants – die vernachlässigten Bereiche. Fleisch, Sauce, Desserts, tierische Fette, Backwerk und Schokolade – alles, was geschmacksintensiv ist und sich für verschiedene Würzungen eignet, steht im Mittelpunkt.

Die Arbeit am leichten Geschmack von Gemüse und Fisch fällt nicht nur den Köchen, sondern auch den Essern schwer. In Europa liebte man lange Zeit die Veränderung der Ausgangszutat, also das Transformieren. Die Arbeit der Köche richtete sich lange Zeit auf die Suche nach einem noch unentdeckten, die Sinne betörenden Geschmackserlebnis. Die Konzentration auf das Einfache und auf den Eigengeschmack des Produktes sind neuere Arbeitsthemen.

In Japan dagegen geht es um dies: den Eigengeschmack der Dinge. Die Dinge werden in ihrer Eigenheit nebeneinander gebracht und selten gemischt. Hierin hat die japanische Küche ihre Tradition und verfügt darin über viel Wissen. Dieses Wissen, verwoben in der kulinarischen Kultur Kyotos, zu studieren, ist das Anliegen des Forschungsprojekts.

Um von der europäischen (und insbesondere der deutschen Küche) zur japanischen Küche zu gelangen, ist es ein langer Weg der Sensibilisierung. Nicht das Aroma steht im Vordergrund, sondern Wahrnehmungsmomente wie Konsistenzen, Oberflächenbeschaffenheit und Farbspiel. Die Dramaturgie des Menüs ist eine andere. Im europäischen mehrgängigen Menü bildet das Fleisch den wichtigsten Teil. Die Gänge steigern sich in ihrer Intensität bis zum Hauptgang (dazu gehört auch die Temperatur des Gerichts; nur Vorspeise und Dessert werden gewöhnlich kalt serviert), ebenso die begleitenden Weine, bevor das Essen in einem süßen Finale mündet. Der Geruch spielt darin eine wichtige Rolle. Über die Temperatur des Gerichts (und den Einsatz von entsprechenden Gewürzen) lässt sich die Verbreitung der Aromen in der Luft steuern.

Im japanischen Menü sind die Gänge häufig kalt, sodass die Nase wenig gefordert ist. Der Geschmacksprozess beginnt mit dem Betrachten und geht dann direkt zur Wahrnehmung im Mund über. Im Vergleich drängt sich ein europäisches Menü geradezu auf. Das japanische Essen zieht sich von der Tendenz her eher zurück. Es erfordert vom Essenden eine Suchbewegung, vorwärtsgerichtet; während eine intensive Jus der haute cuisine eher ein Kampf um die Herrschaft über das Spiel der Sinne ist. Es beginnt mit einem Zurückdrängen und endet mit einem bitter bezahlten Sieg – die Betörung wird mit der Zurückeroberung der Kontrolle aufgehoben.

Um ein japanische Menü entsprechend zu genießen und zu analysieren, bedarf es daher einer anderen Haltung als gegenüber einem europäischen Menü. Diese Haltung muss erlernt werden – und das Essen im Kawakami bildete hierzu den Auftakt.

 

©Anke Haarmann

Das Restaurant

Auffallend ist zunächst die Ansprache des Kawakami. Es liegt in einer ruhigen Seitenstraße im Gion-Viertel und „versteckt“ sich – hinter einer schlichten und alten Fassade aus Holz. Warum? Scheinbar will das Restaurant will keine Laufkundschaft ansprechen, sondern Gäste als Stammgäste gewinnen. Watzlawicks „man kann nicht nicht kommunizieren“ wird an der Fassade eindrücklich belegt. Ein kleiner Hinweis, zwei Kanji, geben der Fassade einen Namen. Das Symbol von „Diners Club“ weist darauf hin, dass man hier etwas mit dieser Karte bezahlen kann – wahrscheinlich ein Essen. Aber auch das ist nur eine Vermutung, wenn man das Restaurant nicht kennt.

Es bedarf einer Einladung von jemandem der bereits den Gaststatus inne hat. Dann öffnet sich die Tür und man ist willkommen. Es findet also eine besondere Selektion statt. Die Einstiegshürde ist nicht nur die Bereitschaft, eine bestimmte Summe für ein Essen auszugeben, sondern ein Kontakt. Die Entscheidung, in einem solchen Restaurant zu essen, trifft der Gast nicht alleine und spontan. Sie kommt ihm zu, sie wird mit zuteil, gewährt, ermöglicht, usw.

Hinter diesem gastronomischen Konzept, verbirgt sich ein Geschäftsmodell, das mit einer diskreten Exklusivität operiert, mir aber darüber hinaus unklar bleibt.


Der Raum

Eine Eingangstür des Restaurants wird zur Seite gezogen. Wir durchqueren einen schmalen Gang und treten in den Gastraum ein. Dort werden wir begrüßt.

Der Raum ist fensterlos, quadratisch, niedrig. Eine Theke durchtrennt ihn in einem rechten Winkel und teilt ihn in einen kleinen Arbeitsbereich. Von acht Sitzplätzen aus können die Gäste den Köchen über die Theke hinweg beim Arbeiten zusehen. Zwei Arbeitsplätze mit dicken Holzbrettern sind im Kochbereich aufgebaut. Messer stecken mit dem Griff nach Oben in Schlitzen in der Arbeitsfläche. Kellen und Stäbchen ruhen in einem hohen Gefäß. Zwischen den Arbeitsplätzen gibt es ein Waschbecken. Hinten an der Wand einen Metallkühlschrank.

Auf der anderen Seite des Eingangs gehen zwei Türen in die Küche. Ein leises Klappern ist zu hören. Man sieht einen rauen, dunkeln Steinfußboden und die Gasflammen des Herdes. Die Arbeit ist sichtbar (und deren unästhetische Aspekte sind zu erahnen).

Kappo-Stil bedeutet für ein Restaurant genau dies: Das Kochen findet vor den Gästen statt. Die Arbeit ist Teil der Inszenierung.

Das Kawakami ist in der Hinsicht eine Besonderheit, als dass es als Kappo-Restaurant ein Kaiseki-Menü aufführt. Gewöhnlich gibt es im Kaiseki-Restaurant eine strenge Trennung zwischen Küche und Gastraum, Essen und Kochen. Entsprechend ästhetisch perfekt ist der Raum und die Inszenierung des Essens – allerdings zu dem Preis, dass man die Kunst des Kochs nur indirekt an der Präzision der Schnitte, der Zusammenstellung der Gerichte oder dem Einsatz von Farben und Aromen ablesen kann. Im Kawakami bildet die Theke die Grenze zwischen den beiden Stilen – zwischen funktionalem Arbeitsbereich und ästhetischem Gastraum. Der Raum ist klar ausgeleuchtet. Wir können den Blick auf die beiden Blumengestecke wenden, ihn über das massive rohe Holz der Theke wandern lassen und schließlich den Koch dabei beobachten, wie er Sashimi schneidet oder einen Teller anrichtet. Im Hintergrund: der Kühlschrank. Über dem Koch: die Neonlampe unter der Decke. Es gibt keine romantisierenden Elemente, wie gedämpftes Licht, Kunst an den Wänden oder klassische Musik. Man hört das Klappern aus der Küche, das Surren des Kühlschranks und das Gespräch der anderen Gäste.


Kochen

Neben dem Küchenchef kümmern sich fünf Angestellte in Kochuniformen um (heute) sechs Gäste. Es gibt in diesem Sinne keine Kellner. Dennoch wird während des Abends eine Hierarchie und Arbeitsteilung deutlich. Drei Angestellte servieren Tee, räumen Teller ab und verbringen einige Zeit in der Küche. Der Küchenchef und ein weiterer Koch – aufgrund seiner Haltung und Ausstrahlung wahrscheinlich sein Stellvertreter – sind die beiden Köche, die in dem kleinen Arbeitsbereich hinter der Theke arbeiten und vor den Gästen kochen.

Ihre Bewegungen sind zackig und zielgerichtet, präzise und schnell. Beim Anrichten konzentrieren sie sich. Wenn sie mit den Gästen sprechen, geht ihnen die Arbeit ohne besondere Aufmerksamkeit von der Hand. In der Art, wie sie ihre Messer in die Schlitze im Tisch gleiten lassen, erinnern sie an Ritter und deren Handbewegung, wenn sie ihre Schwerter an den Rand der Scheide legen, um es daran sicher hinein gleiten zu lassen. In den Bewegungen mit Stäbchen vollziehen die Köche kleine stilisierte Schleifen, die für die Arbeit nutzlos sind, und gerade darin andeuten, dass sie die aktuelle Bewegung unzählige Male ausgeführt haben. Sie inszenieren sich als Autorität über den Küchenbereich und alles, was damit zusammenhängt – vom Messer und dem Abwischen des Schneidebretts, über den Schnitt durch die Erdbeere bis hin zur Entfaltung eines leichten Weingeschmacks im Dessert. Es kommt keine Hektik auf, wie in deutschen Küchen. Die Prozesse sind unter Kontrolle und laufen still und präzise ab. Diese konkrete Darstellung von Kunst und Handwerk in der Figur des Kochs hat die Kappo-Küche dem Kaiseki-Restaurant voraus. Und natürlich bietet dieser Kappo-Stil eine direkte Kommunikation – nicht unwichtig, wenn es darum geht, eine Beziehung zu einem neuen Gast aufzubauen oder eine alte zu pflegen.

 Vor den Gästen findet jedoch nur ein Teil des Kochens statt: Das Anrichten. Die Vorbereitung und das Erhitzen passieren hinter dem Vorhang in der Küche. Der Küchenchef steht, wie in allen Küchen, an der zentralen Stelle und kontrolliert die Gerichte mit abschließenden Arbeiten (Zusammensetzen, Dekorieren). Die organisatorische Trennung des Kochens ist dem Kappo-Konzept geschuldet und ist ein wesentliches Inszenierungsmoment. Der Gast kann sich von der Qualifikation der Köche und auch von der Qualität der Zutaten überzeugen (etwa wenn der Wasabi frisch gerieben wird). Für die Wertschätzung des Essens und somit auch für dessen Geschmack ist diese Demonstration ein wichtiges Element. Die Struktur des Essens, ein festgelegtes mehrgängiges Menü, hält die Komplexität der Prozesses (im Vergleich zu einem „à la carte“-Restaurant) in Grenzen. Dies kommt vor allem der Präzision der Arbeit zugute. Man muss sich also nicht fragen, ob dem Koch ein Fehler unterlaufen ist, wenn etwas irritiert. Ein solches Menü ist damit kein Zufall, sondern eine klare Aussage oder Präsentation.

Das Menü

(1) Als erster Gang wird ein kleines Töpfchen auf die Theke gestellt. In einer weißen, cremigen Marinade finden wir einen Farn, eine Wild- und Frühlingspflanze. Die Stängel schimmern bräunlich durch das trübe Weiß der Marinade. Die Spitzen der Pflanze sind in sich gerollt, wie man es auch bei unseren heimischen Farnen im Frühjahr sieht. Die Konturen sind durch die Marinade nur schlecht auszumachen, ebenso das Aroma. Stattdessen wechselt das Dressing zwischen Sesam und Senf. Es ist cremig, ohne Sahne zu enthalten. Die Grundlage ist Tofu. Der Farn steuert etwas Konsistenz bei – ähnlich wie ein etwas zu lange blanchierter Thai-Spargel.

(2) Dann wird ein geschlossener, braun-rötlich lackierter Kasten auf die Theke gestellt. Wir heben den Deckel ab und schauen auf eine Vielzahl kleiner Elemente: Fisch, Saubohnen, Daikon, Seeigel, ein kleines Stück Sushi, eine kandierte Zitrusfrucht, ein Stück geräucherter Lachs. Hassun heißt dieses Entree (der Name bezieht sich auf die Maße der Box). Aus ihrer Tiefe steigt ein leichter Duft auf: Zitrone. Die Zitrusfrucht scheint so etwas wie das Thema zu sein, dass sich unterschiedlicher Form in den Zubereitungen findet; sehr leicht und indirekt in Lachs und im Daikon (beide Elemente lehnen an einer Zitronenscheibe); stärker in der gelben stilisierten Blüte, eine kandierte Zitrusfrucht mit leichten Bitternoten. Die Zubereitungen drängen sich nicht auf. Im europäischen Sinn sind sie nicht gewürzt. Sie schmecken jedoch nicht fade. Sie werden getragen durch ihren eigenen und durch einen „unsichtbaren“ Grundgeschmack.

Die größten Differenzen finden sich in der jeweiligen Konsistenz. Die Isassa-Fische fühlen sich an wie kleine, pralle Därme, die mit einer etwas mehligen Masse gefüllt sind. Ein klarer, angedickter Fond macht sie geschmeidig und ummantelt sie mit Fülle. Durch das Weiche, Salzige und Karamellige des Seeigels steigt ein leiser Schärfeton (frischer Wasabi) auf. Kühl und glatt wandern die Bohnen über die Zunge, bevor die Zähne das knackige Fleisch aufbrechen. Ein kleines rosafarbenes Bällchen fühlt sich im Mund an, wie eine leicht gummiartige Verbindung aus tausenden kleiner Partikeln (vermutlich einer Fischfarce), zwischen die sich kühle Saftigkeit eingelagert hat. Das Sushi ist ein einziges, langsames Weich. Der Übergang zwischen Fisch und Reis ist fließend. Der Geschmack nimmt den geraden Mittelweg zwischen Süß, Salzig und Sauer, ohne auch nur einmal seine Position zugunsten eines der Elemente zu verändern.

(3) Der Vielfalt der Vorspeise folgt ein schlichter, aber ebenso präziser Gang. Der Koch hatte feine Stahlnadeln durch ein Aalfilet geschoben, um die Haut des Fisches mit einem Bunsenbrenner zu rösten (ohne fett – Yaki shimo nennt sich die Grillmethode). Vor uns stehen nun die feinen Scheiben des Fisches (die geröstete, eingeschnittene Haut zeigte nach oben), begleitet von frischen matt-hellgrünen Wasabi und Sojasauce. Die Scheiben schmecken warm, glatt und in einem fremden Sinne neutral. Sie sind ohne spezifischen Fischgeschmack (es würde Mühe machen, den Aal aufgrund seines Aromas in einer Blindverkostung zu identifizieren), aber dennoch nicht leer oder wässrig, sondern vergleichbar mit dem Gefühl, wenn die Zunge lauwarmen Pudding berührt. Die Fischscheiben sind vor allem Konsistenz. Die Haut knackt knorpelig im Mund. Langsam mischen sich die Bitterstoffe der gerillten Haut mit dem Fleisch, der Sauce und der sehr milden, eher symbolischen Schärfe des Wasabi.

(4) Dem rohen Aal folgt ein Sashimi von Thai, Ika und Ageshima (einer Makrelenart). Wiederum sind die unterschiedlichen Konsistenzen und Oberflächen das auffälligste Unterscheidungsmerkmal. Das Aroma der Fische bleibt erneut im Hintergrund (Ich habe noch kein Gefühl für die Qualitätsunterschiede zwischen einem guten und sehr guten Sashimi; vermutlich besteht er im Grad der Abwesenheit von schlechtem Geschmack – in Verbindung mit einer festen Fleischstruktur). Das Sashimi wird, anders als der Aal vorher, gekühlt serviert – was die Frische nochmals unterstreicht. Die Unterschiede, die mir leicht auffallen, liegen im Geschmack von Wasabi und Sojasauce (diese hier ist sehr rund und eher süßlich, die scharf-salzige Spitze einer gewöhnlichen Sauce fehlt), in Farbe und Form des Shisoblattes und in Schnitt und Form der Fischstücke. Ich hätte erwartet, dass diese Stücke frei von festen, sehnigen Teilen wären. Als europäischer Esser erwarte ich von einem europäischen Spitzenrestaurant ein besonders zartes Stück Fleisch – egal ob gebraten oder geschmort. Bei diesem Fisch und Ika scheint das nicht im Vordergrund zu stehen und so kaue ich etwas irritiert darauf herum.

Der Thai schmeckt glatt und süßlich. Ika hat durch seine elastische Struktur ein sehr charakteristisches Geschmacksbild. Die Makrele ist weicher und zerfließender. Dennoch: alle Fischscheiben erfordert intensives Kauen und der erste Biss gleich einem Knacken. So viel Widerstand hätte ich nicht erwartet.

(5) Vorsichtig wird der nächste Gang auf die Theke gestellt – ein irdener, flacher Topf, in dem eine Suppe mit Kohl, Seidentofu und Asari-Muscheln (laut Wörterbuch: kleine Miesmuschel) brodelt. In der klaren Flüssigkeit schwimmt ein Gewebe aus feinen weißen Fäden, die der Suppe eine Dicke geben, wie man sie von Entengrütze in einem Teich kennt. Wie ein Schleier verbergen sie die Muscheln und den Tofu, die mit suchenden Bewegungen hervorgelöffelt werden. Der Geschmack der Suppe ist wiederum voll und dicht, ohne zu dominieren. Muscheln, Tofu und Kohl entfalten darin ihr je eigenes Aroma. Erneut beeindrucken mich die schwammartigen Eigenschaften des Kohls: Er zerbricht mürbe im Mund und gibt darin eine intensive, klare Flüssigkeit frei – sozusagen „reiner“ Geschmack mit einer Spur Kohlrabischärfe.

(6) Dann folgt eine Tranche lauwarme, glasierte Lachsforelle, die noch schwarze Spuren vom Rösten zeigt und mit feinen grünen Kräutern garniert ist. Perfekt gegart zerfällt sie unter dem Druck der Stäbchen und der Zunge. Das Süße und Bittere der Glasur, sowie ein Anklang von Alkohol, leiteten den Geschmacksverlauf ein. Sie weichen dann einem klaren Fischgeschmack, sozusagen dem Thema und Hauptteil, der im Ausklang vom fremdartigen Aroma des Krautes abgelöst wird. Dies ist der bisher „würzigste“ Gang des Menüs.

(7) Wie intensiv vegetarische Küche sein kann, zeigt sich am nächsten Gang. Aus einem dampfenden Topf holt der Koch nacheinander Takenoko (Bambussprosse), Wakame und Fuki (in Geschmack und Aussehen dem Staudensellerie verwandt), schichtet sie in eine tiefe, enge Schale, gießt etwas von einer klaren, angedickten Marinade über das Gemüse und garniert es schließlich mit einem feingliederigen Kräuterzweig. Die Wakamestreifen breiten sich glatt und breit über die Zunge, benetzen sie mit salzig-kühler Feuchtigkeit. Sämig zergehen sie beim Kauen im Mund. Die Fukistreifen sind dagegen klar und krunschig. Die Bambussprosse zeigt einen festen, fleischig-intensiven, leicht nussigen Geschmack (wie man ihn bei uns vielleicht von Artischocken kennt). Das Gericht ist intensiv, abwechslungsreich und gut aufeinander abgestimmt. Der schweren, dunklen Dichte von Wakame und der knackenden Struktur der Sprosse steht das feine, komplexe Aroma des Sancho gegenüber.

(8) Scheinbar gibt es in einem mehrgängigen japanischen Essen festgelegte Menübestandteile, so wie das Tempura – hier von grünen, kleinen Paprikaschoten, Zwiebeln und Ayu, einem kleinen Süßwasserfisch aus dem Nahen Biwa-See. Auch hier frage ich mich, welcher Unterscheidungsmittel sich ein Spitzenrestaurant bedient, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Dem Gericht versucht der Koch im Kawakami eine besondere Akzentuierung zu geben, indem er den Fisch im Ganzen serviert und damit auch das Bittere des tranigen Fettes mit in den Geschmack einbezieht.

(9) In diesem Menü gibt es einen Wechsel zwischen Gerichten, die eine Vielfalt von kleinen Elementen bieten und solchen, die sich auf ein Produkt oder eine Zubereitungsmethode konzentrieren. Auf das Tempura folgt ein Teller mit Garnele, Fisch und einem kleinen Tintenfisch, mit grünem Spargel, Rapsblüten und Ingwer. Jedes Element zeigt erneut einen sehr eigenen Geschmack. Hilfsmittel, wie eine cremige Sauce, welche die Elemente miteinander verbinden gibt es keine. Dennoch ist der Teller mehr als eine bloße Zusammenstellung beliebiger Zutaten. Verschiedene Farben, Konsistenzen und Aromen sind hier vereint: Eine zarte, innen nur leicht gegarte Garnele, deren knuspriger frittierter Kopf und Panzer krachend zwischen den Zähnen splittert, dann erneut die milchig-weichen, glitschige Fische mit mehligem Inneren, sowie mit weißen Miso marinierte Rapsblüten, ein frischer, leicht zitronensaurer Tintenfisch, grün schmeckender Spargel und ein eingelegter Ingwerstängel – süß, sauer und leicht scharf.

(10) Der Reis, der anschließend serviert wird, kündigt das Ende des Menüs an. Muscheln und Seri (ein lauchähnliches Kraut) geben ihm Aroma. Begleitet wird er von einer tiefen, rauchigen Suppe, eingelegtem Gemüse und salzigen, medizinisch-herben Kombustücken.

(11) Als Dessert werden in Zuckerwasser eingelegte, süße, kühle Früchte serviert. Der Koch schneidet nacheinander Erdbeeren, Kiwi, Kumquats, eine Zitrusfrucht und eine geschälte Tomate in Stücke. Sein Messer gleitet dabei mühelos durch die Früchte. Dann richtet er sie mit einem feinen Minzblatt an und mariniert mit Rotwein-Zuckersirup.

Jede einzelne Frucht wird mit einer kleinen Holzgabel aufgespießt und gegessen. Jede Frucht scheint durch das Zuckerwasser denselben Grad an Süße zu haben. Auch hier stellt sich die Frage: Wie führt der Koch bei der Präsentation der Früchte einen Unterschied ein, der den Status des Restaurants und den Preis des Menüs rechtfertigt. Mit dem Rotweinfond setzte er eine Akzentuierung, sagt der Küchenchef des Kawakami. Einmal mehr sind die Unterschiede fein.

(12) Der Süße des Desserts folgt schließlich Matcha, den der Koch vor unseren Augen aufgießt und aufschäumt. Er schmeckt sanft, verhalten bitter.