Ikijime oder die japanische Art, einen Fisch zu töten

©Jesper Hilbig von Riegg & Partner und Genussakademie Bayern

Ikijime ist eine traditionelle japanische Methode einen Fisch stressfrei zu töten, um eine in Deutschland bisher unbekannte Fleischqualität zu erhalten. Ikijime-Fische können als Sashimi serviert werden oder bis zu 13 Tage reifen. Wie das geht, wie das schmeckt und was das für unsere Esskultur bedeutet, zeigte ein Workshop Anfang November im Foodlab der Genussakademie Bayern in Kulmbach.

Als Referenten dabei: Felix Schneider und Thomas Prosiegel vom Restaurant Sosein (Praxis), Prof. Dr. Thomas Vilgis (über naturwiss. Vorgänge bei Ikijime) und ich (Bedeutung von Ikijimie in der japanischen Küche, insbesondere dem Kaiseki). Da Thomas Vilgis zum Thema noch eine Veröffentlichung vorbereitet, sind seine Ergebnisse hier nur kurz angedeutet.

Seit wir uns verstärkt Gedanken über unseren Konsum und unsere Ernährung machen, rücken auch die Lebewesen in den Blick, die wir dafür brauchen. Üblicherweise geht es in Deutschland um Kühe, Schweine und Hühner, um ihre Verarbeitung, ihre Aufzucht und neuerdings auch um ihr Wohl. Wir sind keine Fischkultur. Aber gerade bei diesen sensiblen Lebewesen, den Fischen, lässt sich gut beobachten, wie ihre Fleischqualität mit der Art und Weise zusammenhängt, wie wir den Fisch behandelt haben, bevor wir ihn essen.


Was ist Ikijime?

Ikijime (oder auch Ikejime) heißt eine etwa 300 Jahre alte japanische Technik, mit der einem Fisch ein sogenannter lebendiger Tod zugeführt wird. Das Besondere an dieser Methode ist das gezielte, präzise Töten mit einem Stich ins Gehirn sowie das Durchstoßen des Spinalkanals mit einem einfachen Draht, das gesamte Rückgrat des Fischs entlang. Der Fisch ist sofort tot und der Informationsfluss vom Gehirn an die Muskeln wird unterbrochen. Der Fisch zappelt nicht mehr (bzw. nur noch kurz), er stirbt stressfrei. Das Fleisch bleibt rein.

©Jesper Hilbig von Riegg & Partner und Genussakademie Bayern


Der Geschmack von Lebendigkeit

Die Totenstarre ist länger als üblich und das Fleisch bekommt eine andere Konsistenz. Der Fisch schmeckt quitschig und zeigt ordentlich Widerstand im Mund. In Japan wird gerade das sehr geschätzt und als Lebendigkeit empfunden (siehe mehr dazu in meinem Text Sashimi). Man spürt dem Leben des Fisches nach, weil man es noch ein wenig spüren kann. Dieser Zustand hält nur ein paar Stunden an. Es zeigt dem Gast, dass der Fisch erst kurz vor dem Servieren getötet wurde, nicht irgendwie, sondern mit der Ikijime-Methode.


Der Prozess des Reifens

Nach dem Hirntod schlägt das Herz des Fisches noch eine Weile weiter. Es pumpt auf natürliche Weise das Blut aus dem Körper. Das Fleisch wird dadurch klar und scheinend – und nimmt einen anderen Verwesungsverlauf als üblich. Dieser ist deutlich langsamer und bei der richtigen Temperatur, etwa um 1°, kann der Fisch reifen und entwickelt dabei Geschmack in Form von Umami. Die Produktion von Umami beginnt bereits während der Totenstarre. Je länger sie andauert, sagt ein japanischer Spitzenkoch, desto mehr Umami entwickelt sich. Nach 13 Tagen habe sich das volle Geschmackspotential entfaltet, sagt Thomas Vilgis.
Verantwortlich dafür sind Ionisate. Diese entstammten dem ATP (Adenotriphosphat) aus den Muskelzellen, so Vilgis. Sie sind z. B. auch daran beteiligt, dass der Katzuo Bushi, mit dem man traditionelle Dashi herstellt, seine besonderen geschmacklichen Eigenschaften entwickelt.
Wenn dessen Ionisate auf die Glutamate des Kombu treffen, der zweiten Grundzutat des Dashi, dann bekommt dieser seinen charakteristischen Boost. Das Geschmackspotential verachtfacht sich, wie japanische Wissenschaftler sagen. Vielleicht auch deshalb wickeln Kaiseki-Köche manchen Ikijime-Fisch in Kombublätter, wie ich es bei meiner Feldforschung im Kikunoi Honten in Kyoto einmal sah. Ionisate im frischen Fisch treffen auch Glutamate im Kombu. Ähnlich und doch ganz anders als beim Dashi. Der Geschmack hebt sich beim Reifen.

In einem Workshop der Genussakademie Bayern in Kulmbach zum Thema Ikijime konnte ich gereiften Fisch schmecken. Aus Japan kannte ich bisher nur die frischeste Version, den lebendigen Fisch mit dem quitschigen Knack. Felix Schneider und Thomas Prosiegel vom Sosein im fränkischen Heroldsberg haben zwei Lachsforellen und einen Stör mitgebracht. Sie zeigten den teilnehmenden Köchen die Ikijime-Technik und hatten Proben von gereiftem Ikijime-Fisch dabei.

©Jesper Hilbig von Riegg & Partner und Genussakademie Bayern

13 Tage konnte die älteste Probe reifen. Sie stammte von einer Lachsforelle, die die Sosein-Köche erst vor Ort aufschnitten. Sie lag im Ganzen in einem Normblech, mit Haut und Kopf und allem dran, und erinnerte etwas an ein Vanitas-Stillleben. Die Augen des Fisches waren eingefallen, die Haut ein wenig schrumpelig, das Fleisch darunter schien locker an den Gräten zu hängen. Der Fisch roch ein bisschen nach Graved Lachs, also nicht unangenehm. Ein leicht süßlicher, gereifter Geruch. Das Fleisch war klar, dunkel und durchscheinend leuchtend. Es wurde als eine von sechs Proben mit selbstgemachtem Miso serviert. Die Sosein-Köche hatten jeweils eine Scheibe aus dem Rücken, dem Bauchbereich und dem Bauchfett von einer Lachsforelle geschnitten, die konventionell getötet wurde (ein Tag alt), von einer Ikijimie-Forelle, die sechs Tage gereift war und schließlich von jenem 13 Tage alten Fisch.

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Wie schmeckt gereifter Fisch?

Es gab für mich drei Highlights unter den neun Proben. Das war zunächst der Schmelz des Bauchfetts des 13 Tage alten Fleisches. Das Umami und die leichten Aromen verschmolzen wie aus einem Guss mit dem Fett und bildeten einen sanften Film, der noch eine Weile sehr angenehm über die Zunge lief. Ebenfalls beeindruckend war die Probe aus dem Rücken, 6 Tage alt, mit ihrem klaren, reinen Geschmack. Überraschend hingegen: Auch der einen Tag alte auf konventionelle Art getötete Fisch, zeigte noch einen leichten Knack und eine blumige, doch noch recht ordentliche Frische. Persönlich gefällt mir der frische Ikijime-Fisch als Sashimi serviert doch am Besten. Ich kann aber auch gut nachvollziehen, dass unsere Kultur mehr am Reifen und ähnlichen Prozessen interessiert ist und voller Geschmack deshalb das höchste Ziel ist. Diese Dinge sind spektakulärer und lassen sich besser verkaufen bzw. vermitteln. Und man muss nicht so genau hinschmecken, weil die Geschichte selbst schon einen starken Geschmack hat. Denn eigentlich schmeckt der frische Ikijime-Fisch nach nichts, also nicht nach irgendwelchen Aromen sondern nach Temperatur und Struktur.


Wir und der Fisch

Deutschland ist keine Fischkultur. Ich konnte in Japan ohne zu überlegen frischen, rohen Fisch essen. Im Ruhrgebiet, wo ich mein Studium verbracht habe, hatte ich selbst bei engagierten Fischhändlern immer ein komisches Gefühl. Einmal hatte ich Makrelen bestellt, weil ich Sabasushi machen wollte. Ich bekam einen Anruf, dass sie angekommen waren. Schon der Blick in ihre Augen sagte mir, dass sie schon etwas Zeit im Jenseits verbracht hatten. Makrelen, das sollte man dazu sagen, sind sehr empfindlich und verderben schnell. „So frisch sehen die aber nicht aus“, hatte ich damals zur Fischverkäuferin gesagt. „Die sind frisch gekommen“, gab sie als Antwort zurück. So viel zu unserem Denken.


Lokaler Fisch in Sashimi-Qualität

Das Besondere an der Verbreitung von Ikjime in Deutschland ist: Man kann nun lokal frischesten Fisch haben, wenn man jemanden findet, der den Fisch lebendig liefert oder das Töten übernimmt. Beides ist nicht so einfach, wie Felix vom Sosein berichtet. Hat man den Fischer überzeugt, spart man sich den Handel mit Rungis Express, Deutsche See usw. und braucht keine Fische mehr vom Tsukiji-Markt aus Tokyo importieren. Etwas mehr als 9000 km Transportweg mit dem Flugzeug fallen einfach so weg. Schon allein das ist ein wichtiger Aspekt für die Nachhaltigkeit des Kochens und Essens.

©Jesper Hilbig von Riegg & Partner und Genussakademie Bayern


Die Bedeutung von Ikijime: Ethik, Ästhetik, Nachhaltigkeit und Geschmack

Der Gewinn ist jedoch noch umfassender. Er liegt zunächst in der Qualität dessen, was auf den Teller kommt. Allein durch die Technik ist es lokal möglich, höchste Sashimi-Qualität zu servieren. Geschmacksqualität und Nachhaltigkeit gehen hier Hand in Hand. Gleichzeitig zielt Ikijime darauf, den Fisch so wenig wie möglich vor und während des Todes leiden zu lassen. Das hat nicht allein ethische sondern wiederum auch geschmackliche Gründe. Die Hormone, die ein gestresster Fisch in seinen Körper abgibt, wirken sich negativ auf seinen Geschmack aus. Falsches Töten verdirbt ihn. Ethik und Geschmack verschmelzen.

Felix vom Sosein habe die Technik über das Sportfischen kennengelernt, wo sie sich anscheinend schneller verbreitet hat als unter professionellen Fischern und Köchen, sagt er. In Deutschland ist es wohl Dylan Watson vom ernst, der die Ikijime-Technik erstmalig in der Kochszene zeigte.
Der stumpfe Schlag auf den Kopf wird damit ersetzt durch den gezielten Stich ins Gehirn. Eine australische Website für Sportfischer hilft z. B. mit der Frage, welcher Fisch da an der Angel hängt, wo sein Gehirn ist und wie man es am besten erreicht. Das Tierwohl, wie man es gerne in Nachhaltigkeitskreisen nennt, scheint bei den Sportfischern ein größeres Thema zu sein als bei den Profis. Vielleicht auch deshalb, weil das Töten des Fisches, der da an der Angel zappelt, kein anderer übernimmt und man es selbst tun muss. Diese Nähe zum Tod bewirkt wohl ein Umdenken oder eine intensivere Auseinandersetzung mit dem, was man da tut.
Felix vom Sosein berichtet, dass niemand in seinem Team die Aufgabe des Tötens gerne ausführen würde. Aber dennoch scheint es weiterhin die beste, weil auch „schonendste“ Art zu sein. Schonend heißt in diesem Fall stressfrei, denn die entsprechenden Hormone lassen sich nachweisen und schmecken.


Bewusstseinswandel

Mit der Ikijime-Technik verändern sich die Zusammenhänge, in denen Fisch als Lebensmittel steht. Allein durch das Töten verändere sich das Bewusstsein, sagt Felix. Denn wenn der Fisch stressfrei sterben soll, dann sollte er auch bis dahin stressfrei leben. Die Fahrt vom Sosein in Heroldsberg nach Kulmbach ist den beiden Lachsforellen nicht besonders gut bekommen. Die eine musste schnell getötet werden. Es hätte zu viele Hügel auf dem Weg gegeben, sagten die Köche. Die Fische würden die die Höhenunterschiede spüren, würden versuchen, sie auszugleichen. Man merkt, wie empfindlich sie sind.

Im Sosein hat man von den Fischen gelernt. Nach dem Transport, der sie lebend zum Restaurant bringt, können sie sich beruhigen. Die Köche richten den Zeitpunkt des Tötens nach dem Fisch, dann nämlich, wenn er zur Ruhe gekommen ist. Aber jeder Fisch ist anders und während man Thomas und Felix beim Umgang mit den Fischen, beim Räumen, Töten, Zerlegen und Pflegen zuhört, dann merkt man, dass sie sich mit jeder einzelnen Fischart, die sie servieren, intensiv auseinandersetzen.
Das geht mitunter sehr tief. Man spürt Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Wertschätzung. Ist es schwer, den Gästen das zu vermitteln, was sie da tun? Nein, meint Felix, denn die Qualität spreche für sich. So habe ich Fisch noch nie gegessen, würden die Gäste dann sagen. Aber dennoch stellt sich während der Workshops in einer Diskussion die Frage, wie weit man gehen, was man voraussetzen, wie weit man den Gast mitnehmen kann oder muss. Felix und Thomas sind so eine Art Kulturvermittler. Sie übernehmen eine Funktion, die eigentlich Bildungsinstitutionen obliegen würde – wenn es sie denn gäbe.

 

©Jesper Hilbig von Riegg & Partner und Genussakademie Bayern

Der Bewusstseinswandel geht aber noch eine Stufe tiefer. Japanische Köche, aber auch Zen-Buddhisten, sprechen viel von der Haltung, der Haltung zu sich, zur eigenen Tätigkeit, zu den Dingen und Menschen, mit denen man es zu tun hat, kurz: zum Leben und zur Welt. Felix vom Sosein berichtet, dass sich über das Töten eines Fisches nach Ikijime seine Haltung auch gegenüber anderen Lebensmitteln, oder sagen wir besser: Lebewesen, geändert habe. Und so habe er angefangen darüber nachzudenken, wie er zukünftig mit einer Karotte umgehen wolle. Insofern hat eine eigentlich einfache Technik, die an einem Ende der Welt entwickelt wurde, am anderen Ende der Welt, hier bei uns, wo sie sich nun verbreitet, einen großen Einfluss auf die Esskultur.


Fazit

Man muss keine japanischen Produkte importieren und man muss auch kein Japanfan sein, um von dieser Methode überzeugt zu sein und sie anzuwenden.
Was man braucht, ist Respekt vor dem Leben, den Mut Verantwortung dafür zu übernehme, einen spitzen Gegenstand aus Metall und einen einfachen langen Draht.